2 Chapters Love - Ballett (2024)

Christian Spuck (CS) Was bedeutet ein Neuanfang für dich? Ist das etwas Positives oder eher etwas Beängstigendes?

Sharon Eyal (SE) Ehrlich gesagt, gibt es keinen Neuanfang, denn es geht nur um das Ende. Ein Anfang ist eigentlich das Ende von etwas. Für mich ist das alles eins!

CS Welche Rolle spielt die Stadt, in der du lebst oder arbeitest? Und wie ist es mit Berlin?

SE Es hat viel mit Emotion, Energie und Timing zu tun. Es ist auch alles mit dem Augenblick verbunden. Ich liebe Berlin, ich habe tolle Erfahrungen hier gemacht, mit dem Staatsballett und auch mit unserer eigenen Kompanie [L-E-V Company], wir haben im Kraftwerk Mitte getanzt. Es gibt da etwas sehr Offenes in dieser Stadt. Für mich lässt sich Berlin als etwas Buntes mit einem Schwarzweiß-Gefühl beschreiben.

CS Das ist ein schönes Bild. Woher nimmst du deine Inspiration, wenn du kreierst? Erstellst du vorher ein Konzept?

SE Ich glaube, ich kann nicht «etwas» erschaffen. Es ist vielmehr so, dass ich unterschiedliche Kräfte in meinem Körper und meinem Herzen habe, die mich dazu bewegen, etwas zu erschaffen. Ich muss tanzen, und ich muss etwas verteilen, das aus meinem Inneren kommt. Inspiration ist für mich nichts, das ich identifizieren kann. Vielmehr geht es um Erfahrung und Momente und Menschen, meine Familie und meine Liebe, all diese Momente, auch der Himmel und die Nacht. Inspiration liegt in der Luft, man muss sie nur einatmen.

CS Ist es leicht, sie einzuatmen, oder fällt das manch­mal auch schwer?

SE Für mich ist das nie einfach. Nichts ist einfach. Mit Leichtigkeit kann ich nicht viel anfangen. Ich will aber auch nicht sagen, dass es schwer ist. Es gibt viele Farben in diesem Atem. Noch einmal, es ist alles darin enthalten. Es ist sehr minimalistisch auf sehr maximale Weise.

CS Wie wichtig sind deine künstlerischen Partner*innen, deine Tänzer*innen, deine Komponist*innen, deine Kostümbildner*innen?

SE Ich glaube an Zusammenarbeit, und ich glaube wirklich an die Menschen um mich herum. Das ist eine weitere Inspiration. Musik, Kostüme, Licht, Tänzer*innen, und natürlich mein Mann [Gai Behar], wir arbeiten zusammen. Bei mir dreht sich alles um die Menschen. Tatsächlich kann sich durch sie in einem Stück etwas extrem verändern. Ich denke, es geht um die Chemie und darum, sich etwas zu wünschen, gemeinsam denselben Stern zu betrachten. Da ist etwas Größeres, wonach jeder und jede einzelne strebt. Die Menschen sind extrem wichtig.

CS Ist das nicht ein schöner Moment, wenn du spürst, wie alle irgendwie miteinander verschmelzen?

SE Das ist wunderbar! Es ist etwas ganz Besonderes, wenn das passiert.

CS Ja, ich weiß genau, was du meinst. Manchmal hat man so viel zu kämpfen mit der Angst bei der Arbeit, bis man zu diesen Momenten kommt. Aber wenn es plötzlich passiert, war es jede Mühe wert.

SE Magie.

CS Ja, Magie! Das ist das richtige Wort. Hast du Angst vor der weißen Leinwand, wenn du mit einem neuen Werk oder einer neuen Kreation beginnst? Wenn man die erste Entscheidung treffen muss? Manchmal habe ich davor Angst.

SE Ich fange nicht mit einer weißen Leinwand an, denn ich mache eigentlich weiter. Für mich gibt es keinen Startpunkt, sondern das ist ein Prozess. Ich werde immer Angst und immer Emotionen haben. Aber von dort kommt auch die Energie. Vielleicht ist «Angst» nicht das richtige Wort. Es ist mehr eine Bedrängtheit, ich fühle mich dann unwohl mit mir selbst. Aber zugleich ist das die einzige Art und Weise, wie ich anfangen kann.

CS Wenn du also eine neue Kreation beginnst, ist es eher ein Überdenken und Fortsetzen der Arbeit, die du zuvor gemacht hast? Oder beziehst du dich auf deinen Stil generell, den du dann vielleicht reflektierst und in anderer Art und Weise umsetzt?

SE Nein, ich beziehe mich auf nichts, es kann auch das komplette Gegenteil von etwas bereits Existierendem sein. Es ist eher wie die Erinnerung an einen Geschmack im Mund oder an ein Gesicht, die du vielleicht bewahren möchtest. Es ist nicht so, dass ich mich auf meine letzte Kreation oder auf meinen Stil beziehen muss. Es ist eher wie eine Signatur, etwas, das bereits existiert.

CS Was wärst du gern geworden, wenn nicht Choreographin? Was wäre genauso erfüllend für dich?

SE Es ist sehr seltsam für mich, darüber nachzudenken, weil ich einfach genau das bin. Da ist das Kreieren, da ist das Tanzen, dieses Gefühl – ich bin all das. Choreographieren wird immer die Kunst sein, in der ich mich ausdrücken werde. Ich liebe wirklich, was ich tue.

CS Und erinnerst du dich an den Moment, als du wusstest «Ich muss tanzen»? Gab es da diesen funkelnden Moment, als der Tanz plötzlich sagte: «Ich will Sharon Eyal?»

SE Als ich vier Jahre alt war, fing ich an zu tanzen, und als ich dreizehn war, habe ich das erste Mal etwas kreiert. Ich habe immer schon getanzt, aber ich weiß nicht genau, wann der Tanz mich ausgewählt hat. Ich glaube, ich war einfach da.

CS Du beschäftigst dich sehr genau damit, was im Moment in der Welt passiert. Sie ist in einem sehr desolaten Zustand, voller Krisen. Beeinträchtigt das deine Arbeit?

SE Ich lebe in dieser Zeit, und ich bin traurig, dass all das passiert. Es ist schwer für mich. Aber ich hoffe, dass Menschen sich trotzdem verbinden können. Ich möchte teilen, was ich weiß. Und ich denke, wenn mehr Kunst geschaffen wird, wird es mehr Liebe, mehr Frieden und mehr Glück geben.

CS Ich erinnere mich sehr gern an unser Treffen in Paris. Irgendwie war das etwas ganz Besonderes für mich. Es gab einen Moment, den ich nicht vergessen kann. Wir saßen draußen und redeten, dann kam plötzlich die Sonne heraus. Da sagtest du: «Lass uns bitte reingehen. Ich bin ein Mondmädchen, ich kann die Sonne nicht ertragen.» Das ist sehr poetisch, und es erzählt mir viel darüber, wer du bist. Was hat es mit dem Mondmädchen auf sich?

SE Ich glaube, ich bin einfach mehr Mond als Sonne. Der Mond ist so stark, ich beziehe mich auf ihn. In der Sonne fühle ich mich nicht wohl, denn ich habe eine empfindliche Haut. Ich mag die Dunkelheit, weil ich mich im Dunkeln wohler fühle.

CS Du wirst in der kommenden Spielzeit zum dritten Mal mit dem Staatsballett zusammenarbeiten. Was gefällt dir an dieser Kompanie?

SE Alles. Ich liebe die Tänzer*innen. Ich liebe das Team. Ich liebe es, dort zu sein. Und ich komme auch sehr gern an Orte zurück, wenn die Tänzer*innen meine Tanzsprache schon kennen, denn es braucht Zeit, sie zu verinnerlichen. Ich glaube, die Tänzer*innen in Berlin finden etwas in mir.

Ich mag die Technik von klassischen Tänzer*innen. Meine Arbeit braucht das. Diese Wahnsinns-Tanztechnik, die sie haben, und ihr noch verrückteres professionelles Gefühl, diese totale Hingabe, machen die Arbeit noch körperlicher und extremer, und zwar in anderer Weise. Ja, ich liebe es, dort zu arbeiten, ich habe es immer geliebt. Ich denke, es wird großartig!

CS Wenn du zwei Kreationen gleichzeitig machen würdest, eine z. B. in Paris und eine in Berlin, würden die ähnlich oder völlig unterschiedlich aussehen?

SE Vielleicht würden sie ähnlich aussehen, sich aber sehr, sehr unterschiedlich anfühlen. Meine These ist, dass man spüren kann, dass ich es bin, aber da gibt es auch noch andere menschliche Körper, menschliche Seelen auf der Bühne. Man spürt, dass ich es bin, wie ein Stempel.

CS Ich habe noch eine letzte Frage. Du hast das bereits beantwortet, aber vielleicht findest du eine kurze Antwort: Wie persönlich ist deine choreographische Arbeit?

SE Ich denke, meine choreographische Arbeit ist absolut persönlich. Es gibt keinen Unterschied zwischen mir und meiner Arbeit.

CS Es ist eigentlich über dich?

SE Es ist über mich und auch wieder nicht. Es kommt aus meinem Inneren, aber in dem Moment, in dem ein Ensemble mitwirkt, bin ich es nicht mehr. Es kommt aus meinem persönlichen Gefühl, aber es ist zugleich universell. Ich denke, wenn du dich mit deinen eigenen Emotionen verbindest, und wenn du etwas aus dir selbst heraus erschaffst, können sich Menschen damit auch verbinden, weil wir durch das Gefühl ein- und dasselbe sind.

CS Vielen Dank, Sharon!

Entnommen aus dem Spielzeitheft 23/24.

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Author: Catherine Tremblay

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